Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen

  Postkoloniales Marokko

Im ersten Band, Das Land der Anderen, der nach Motiven der eigenen Familiengeschichte von Leїla Slimani verfassten Trilogie steht der Zitrangenbaum symbolisch für die Familie Belhaj. Die Elsässerin Mathilde ist ihrem Mann Amine 1946 in seine Heimat Marokko gefolgt, wo nicht nur sie, sondern auch Amine und ihre Tochter Aїcha sich fremd fühlen. Sie sind wie der Zitrangenbaum mit den ungenießbaren Früchten, der Orangenbaum mit dem eingesetzten  Zitronenzweig.

Tänzer und Zuschauer
Der zweite Band, Schaut, wie wir tanzen, setzt 1968 gut zehn Jahre nach dem Ende des ersten und nach der Befreiung Marokkos aus französischer Kolonialherrschaft ein. Amine hat die ererbte karge Farm dank eiserner Willenskraft, Klugheit und Fleiß zum modernen, erfolgreichen Agrarbetrieb umgestaltet und wird von der neuen Oberschicht Marokkos umworben, die in Bildung und Auftreten den ehemaligen Kolonialherren gleicht. Wieder tanzen nur wenige, die Mehrheit schaut zu.

© B. Busch

Im April 1968 weicht der Zitrangenbaum einem Pool, sichtbares Zeichen des Aufstiegs, dem Amine jedoch misstraut:

Da begriff Mathilde, dass ihr Mann sein ganzes Leben lang Angst haben würde, man könnte ihm wieder entreißen, was er errungen hatte. Für ihn war jedes Glück unerträglich, da er es den anderen gestohlen hatte. (S. 332)

Und noch etwas bedrückt Amine, der, attraktiver denn je, Mathilde betrügt und sie dennoch auf seine Art liebt: Keines seiner Kinder wird die Farm weiterführen. Aїcha, sein Augenstern, studiert zunächst in Straßburg Medizin, heiratet 1972 den aufstrebenden Wirtschaftswissenschaftler Mehdi Daoud, Spitzname Karl Marx, und lebt als Gynäkologin in Rabat, Selim, Liebling Mathildes, ohne Ehrgeiz und vom Vater verachtet, flieht in die internationale Hippiekolonie nach Essaouira und verlässt schließlich Marokko.

Auch die Schicksale anderer bekannter Familienangehöriger verfolgt der Roman weiter: Amines zwangsverheirateter Schwester Selma, ihrer durch einen missglückten Abtreibungsversuch gezeichneten Tochter Sabah, ihrem traumatisierten Mann Mourad und Amines bei der Geheimpolizei tätigem Bruder Omar.

Alle Figuren erleben mehr Enttäuschungen als Glücksmomente und geben doch nicht auf.

Tänzer und Zuschauer
Während im Band eins die ältere Generation im Mittelpunkt stand, ist es nun die jüngere. Sie verkörpern die Widersprüche des postkolonialen Landes mit seinen enormen Unterschieden zwischen Stadt und Land, Armen und Reichen, Gebildeten und Ungebildeten. Amine verehrt Hassan II und geiselt die Landflucht, die intellektuelle städtische Elite kämpft gegen die Bildungsfeindlichkeit des Königs und dessen Unterdrückung der Opposition.

Eine kongeniale Fortsetzung
Die 1981 in Rabat geborene französisch-marokkanische Gewinnerin des Prix Goncourt Leїla Slimani lebt seit Sommer 2021 für die Fertigstellung ihrer Trilogie in Lissabon, zwischen Frankreich und Marokko, um den Ablenkungen und Versuchungen in Paris entfliehen – wie beispielsweise einer Nacht im Museo Punta della Dogana in Venedig, die zu ihrem exzellenten autobiografischen Büchlein Der Duft der Blumen bei Nacht führte, aber für eine Unterbrechung ihrer Arbeit an Band eins sorgte. Dass sich der Rückzug lohnt, beweist Schaut, wie wir tanzen eindrucksvoll. Auf geniale Weise verbindet Leїla Slimani erneut Einzelschicksale und Familienschicksal mit Marokkos Suche nach einer Vision für die postkoloniale Zeit. Glaubhafte, ambivalente, sich weiterentwickelnde Charaktere, starke Frauenfiguren, eine präzise Sprache, Vielstimmigkeit und Unvoreingenommenheit machen auch diesen zweiten Band so wertvoll. Allerspätestens jetzt gehört Leїla Slimani für mich zu den wichtigsten Autorinnen der Gegenwartsliteratur.

Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand 2022
www.penguinrandomhouse.de

 

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